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„This book ruined my life“, Paul Ngyuen, Amazon-Rating (4/5)

„The Mind in the Cave“ ist ein Buch von David Lewis-Williams aus dem Jahr 2002. Ich habe es am Juni 2022 im Museumsshop der Lascaux-Höhle gekauft. Lascaux gehört zu den ältesten Kultstätten der Menschheit, etwa 2000 Darstellungen befinden sich in diesem Höhlensystem. Ihr Alter ist nicht ganz geklärt. Generell wird gesagt, dass der Mensch vor circa 40.000 Jahren begann Höhlenwände zu bemalen und die Werke in der Lascaux-Höhle einen künstlerischen Zenit aus einer Zeit von vor circa 20.000 Jahren darstellen. 1940 wurde die Höhle von einem Teenager und seinem Hund entdeckt. 1948 wurde die Höhle für Publikum geöffnet. In Zeiten großer Krisen ziehen sich die Menschen zum Ursprung zurück. Die Sicherheit der Höhle vor einem Atomschlag und die Suche nach einem Anfang zog massenhaft Menschen an. Die Ökologie der Höhle veränderte sich rasant, die Werke drohten zerstört zu werden. 1963 wurde die Höhle geschlossen. Die Bilder wurden restauriert und werden seither täglich überwacht. 1983 wurde das erste große Replika angefertigt. 2001 breitete sich wieder weißer Schimmel aus. 2008 zog schwarzer Schimmel ein. 2016 wurde ein immenses Beton-Museum mit

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verschiedenen Replikas eröffnet, das man mit VR-Brillen erleben kann. In dem Museumsshop wurden sehr viele T-Shirts angeboten und nur sehr wenige Bücher, das erinnere ich. Das gesamte Drama der Nachbildungen und Präservierung ist selbst ein Kunstwerk. Mit dieser Simulation beschäftigen wir uns diesmal nicht. Dieser Text soll über „The Mind in the Cave“ und über den mind in the cave gehen.
Der Autor und Archäologe David Lewis-Williams wurde 1934 in Kapstadt geboren. Zu dieser Zeit gab es keine Höhlenkunst-Forschung. Zwar traf der Mensch im Laufe der Geschichte immer wieder in Höhlen auf Malereien und Artefakte, aber es wurde angenommen, dass Gott die Erde erst vor Kurzem geschaffen hatte. Die Malereien wurden als zeitgenössisch angesehen. Unser Wissen über die deep time der Menschheit ist sehr jung. Erst der Priester Henri Breuil, der „Papst der Prähistorie“ (1877-1961), stellte nach seinem Besuch der Lascaux-Höhle eine Chronologie der Steinzeit her. Der Marxist Max Raphael (1889-1952) war der Erste, der die Steinzeit-Malereien als Kunst begriff. Der Franzose Jean Clottes (*1933) konnte durch Radiocarbon das Alter der Höhlen fixieren. Der Exzentriker Peter Ucko (1938-2007) konnte durch die Einbindung indigener Forscherinnen und Schamaninnen in die Höhlenforschung
wichtige Interpretationen vorlegen.

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David Lewis-Williams gehört mit seinen Arbeiten zu den wichtigsten Figuren einer sehr jungen Wissenschaft. Jean Clottes nennt „The Mind in the Cave“ „a genuine masterpiece“. Und Peter Ucko nennt es „exciting, idiosyncratic and brilliant“.

Als ich das Buch kaufte, wusste ich von all dem nichts. Ich war zwar schon als Kind obsessed von sehr alter Geschichte, aber im Sommer 2022 wollte ich einfach nur Urlaub machen. Ich begann das Buch zu lesen. Mein Blick wurde immer irrer. Ich wollte immer tiefer in die Pyrenäen. In andere Höhlen. Tanita fuhr zunehmend beunruhigt den Fiat500 in immer kargeres Gestein, auf schottrigen Straßen in immer seltsamere Sackgassen. Ich trug einen Ziegenbart und hatte aufgehört zu sprechen. Bei Gelegenheit will ich das alles Mal genau erzählen. Durch diese Wochen und die Lektüre von Lewis-Williams Buch habe ich sehr viel über den Beginn der Menschheit und den Anfang der Kunst gelernt. Ab jetzt werde ich „DLW“ für „David Lewis- Williams“ schreiben.
In „The Mind in the Cave“ stellt DLW in einer gut verständlichen Synthese verschiedener Wissenschaften seine Interpretation der prähistorischen Höhlenkunst vor. Dabei konzentriert er sich auf die Malerei, also auf zwei- und dreidimensionale Tierdarstellungen, Symbole,

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Gravuren, Handabdrücken an den Wänden der europäischen Höhlen.
Nach DLWs Auffassung sehen wir in den Höhlen Abbildungen verschiedener Bewusstseinszustände, zu denen nur der Mensch fähig ist. In einem zweiten Schritt aktualisiert DLW Max Raphaels Theorie: Wir können in den Höhlen den Ausbildungsprozess der Stratifizierung – der Schichtung menschlicher Gesellschaft – erkennen.

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2 MIND

„Veränderte Bewusstseinszustände sind eine psychobiologische Fähigkeit der Spezies“ – DFW

Wir leben nicht nur in einer Welt. Wir leben auch noch in einer anderen Welt. In der Welt der Träume. Das ist die Welt der Geister und der Schatten. Unter allen Menschen der Erde findet sich die Fähigkeit zur Halluzination, zur Trance, zur Vision, zum REM-Traum (der Traumzeit, in der die Träumerin die Augen bewegt). Diese veränderten Bewusstseinszustände sind immer die Quellen, zu denen wir zurückkehren, um mit der anderen Welt in Kontakt zu treten. Transzendenz und Ekstase, Auflösung der Innen-und-Außen-Grenzen und die Möglichkeit zu Gefühlen der Einheit sind im menschlichen Gehirn eingearbeitet. Kulturelle Kontexte mögen diese Effekte verstärken oder vermindern, aber solange wir Menschen sind, haben wir die Fähigkeit in andere Realitäten eindringen zu können. Deswegen, das ist die provokante These der großen Neurowissenschaftler d’Aquili/Newberg, wird Gott nicht verschwinden. Dieser Blick in die andere Welt unterscheidet uns von allen anderen Tieren auf der Erde. Selbst die Hinterlassenschaften der Neandertaler, sehr naher Verwandter, mit denen der Mensch etwa 5000 Jahre zusammenlebte, weist darauf hin, dass sie keine Idee einer

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anderen Welt hatten. Grabbeilagen waren ihnen fremd. Bei den Künstlerinnen der Höhlen von vor 40.000 Jahren handelt es sich um moderne Menschen. Wir haben es mit Menschen zu tun, mit den gleichen Körpern und Gehirnen, mit den gleichen motorischen und psychischen Kapazitäten wie wir. Würde ein Mensch von vor 40.000 Jahren in die Gegenwart transportiert, wir könnten ihn sofort zum Klassischen Philologen, zum Mathematiker oder zum Tennisspieler erziehen. Sie unterscheiden sich vom heutigen Menschen nicht. Es handelt sich nicht um Menschen mit einem felligen Rücken oder Uga-Geräuschen. Die Künstlerinnen und Menschen dieser Zeit sind vollständig moderne Menschen. Ihr Bewusstsein ist wie unseres unbeständig und fragmentiert. Sie besitzen genau das gleiche „Bewusstseins-Spektrum“ wie es DLW nennt. Dieses Spektrum sieht so aus:



Alle Gesellschaften der Menschen geben den Bewusstseinszuständen Namen, sie unterteilen die Halluzination, den Traum, die Realität.

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Es ist nötig, einen gewissen Konsens über die Realität zu finden, um gemeinsam zu überleben.
DLW, der lange die San in Südafrika studiert hatte – eine Kultur, die auch heute noch Höhlenmalerei herstellt –, führt aus, dass es sich bei den Malereien an den Höhlenwänden und auf den Felsstrukturen nicht um Abbildungen aus der Natur handeln kann. Die Kunst unserer Vorfahren war kein Naturalismus. Die Künstlerinnen kopierten nicht, was sie um sich herum sahen. Sie zeigten keine Vorgänge des Außen. Auch scheint die oft kolportierte Jagdbeschwörung keine Rolle gespielt zu haben. Häufig ist es so, dass die Tiere, die in bestimmten Höhlen zu sehen sind, im Umfeld der Höhlen gar nicht gelebt haben. Vielmehr handelt es sich bei den Bildern um Abbildungen aus dem Spektrum des menschlichen Bewusstseins. Um Erlebnisse des Inneren. Um Kontakte mit der anderen Welt. Die Höhlenwände mussten die Menschen als eine Membran zwischen den beiden Welten verstanden haben. Auf dieser Membran fixierten sie das, was in ihnen war.

Häufig ist in den Höhlen das neurologische Symptom der sichelförmigen, gezackten Aura abgebildet, die Menschen während einer Migräne-Attacke erleben; eine Krankheit, die es damals schon gegeben haben muss (im Gegensatz zur Erkältung).

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Aber auch andere Bilder aus dem veränderten Bewusstsein können wir erkennen. Einfache, sogenannte „geometrische“ Halluzinationen wie Punkte und Zick-Zacks oder Farbflächen, wie sie in der Einschlafphase sichtbar werden. Einfache und komplexere Tierdarstellungen sind abgebildet. DLW weist darauf hin, dass die Tiere an den Wänden fliegen würden, keine Bodenhaftung, oft sogar keine Füße hätten. Wir sehen Tier-Geister oder Geister-Tiere. Schizophrenikerinnen berichten häufig, dass ihre halluzinierten Figuren nicht auf dem Boden stehen würden und keine Füße sichtbar sind.

Die Darstellungen reichen hin zu bis zu bizarren Menschkreaturen mit langgezogenen Hälsen. Das gesamte Spektrum des menschlichen Bewusstseins wird in der Höhle dargestellt. Aber – und das ist die bedeutende Erkenntnis von DLW: Verschiedene bewusstseinsveränderte Zustände werden an bestimmten Orten in der Höhle fixiert.

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2 CAVE

„Es geht nicht nur um den menschlichen Geist in der Höhle; sondern auch um die neurologische Höhle im Geist“ – DLW

Für die Menschen war es klimatisch eine sehr ungemütliche Zeit. Es war sehr kalt. Es existierten große Tiere wie Mammuts und Höhlenbären. Europa muss ausgesehen haben wie in dem Film Ice-Age, obwohl Ice Age in Amerika spielt. Gletscher schoben sich über den Kontinent und formten Täler; weite, trockene Ebenen von Gräsern in hellem Grün und frostgrau; tief-blaue, vielblättrige Blumenwiesen; wildes Gras, Sträucher und Dornen; an der Mittelmeerküste dichte Nadelwälder.

Die Menschen lebten in diesen eiskalten Jahrtausenden nicht in den Höhlen. Es gibt mehrere Gründe und viele Belege dafür: Das stärkste Argument ist – neben dem fehlenden Licht –, dass der Rauch der Feuer nicht abziehen konnte und die Menschen erstickt wären. Sie lebten in matriarchal-organisierten Familien-Verbänden als Jägerin-Sammlerin-Gesellschaft an den Ausgängen der Höhlen, in Holz-Knochen-Architekturen, die nicht überlebt haben. In diesen Häusern und Hütten lebte alle gemeinsam. Dort arbeiteten sie ein paar Stunden am Tag, dort aßen sie, dort spielten sie

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und am Abend schliefen sie in weichen Betten unter Fellen und dort träumten sie.

Die finsteren Höhlen wurden nur für bestimmte Zwecke betreten. Und auch nicht alle betraten die potentiell lebensgefährlichen Höhlen; die Größe der Höhlenräume oder die Anzahl gefundener Lampen spricht für Handlungen bestimmter Gruppen. Die Eingangsräume waren große Säle, deren hohen Decken und Wände dicht bemalt waren. Mehrere betraten diese Kathedralen gemeinsam, versetzten sich in kollektive Trance und erlebten gemeinsame Halluzinationen. Hier tanzten, beteten, malten sie und interpretierten die Bilder ihrer Vorfahren. Auch Kinder nahmen an diesen Riten teil, was heute an niedrigen Bildern und Abdrücken erkennbar ist. Mit Sicherheit wurde getanzt, musiziert, geklatscht. Flöten aus Mammutelfenbein wurden dort gefunden. Rhythmisches Trommeln und Singen ist bis heute ein Halluzinationstrigger. Ob hier gemeinsam Drogen genommen wurden, lässt sich nicht sagen. Heute ist die Einnahme verschiedener Halluzinogene eine weitverbreitete schamanische Praxis, um in Kontakt mit der anderen Welt zu treten.

Aber nicht nur in diesen großen Sälen befinden sich heute noch Malereien, auch tief in den engen Kanälen, weit unter der Erde, sind Überreste von

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Kulthandlungen sichtbar. Was genau geschah dort? Es mussten einzelne sein, einzelne Sucherinnen, die mit Fettlampen hinabstiegen, auf allen vieren immer tiefer in die Unterwelt eindrangen und tief verschlossen in autistischen und halluzinatorischen Zuständen Symbole, Reliefs und Chiffrierungen sahen und herstellten. Zurück aus den atmenden, engen Tunneln, berichteten diese Sucherinnen den Anderen von den Extremen des Bewusstseinsspektrums.

Eine Leistung von „The Mind in the Cave“ besteht darin, dass DLW erkennt, dass bestimmte Spektren des Bewusstseins mit der Topographie der Höhle und der Ordnung der Gruppe korrelieren.

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DLW geht sogar so weit, eine diverser geschichtete Gesellschaft in Lascaux und eine weniger verästelte Gesellschaft in Gabillou erkennen zu können. Dabei verweist er darauf, dass es sich nicht um eine einfache versus komplexere Gesellschaft handelt, sondern um unterschiedliche Organisationsformen. In Lascaux scheinen die „Einzelnen“ die „Gruppe“ eher in ihre Erfahrungen in der anderen Welt miteinbinden zu wollen, wobei in Gabillou die „Einzelnen“ ihre singulären Erfahrungen eher vor der Gruppe verstecken. Es ist erstaunlich, wie plausibel DLW darstellt, was das für die sozialen Verhältnisse am Ausgang der Höhle bedeuten habet muss. Und wie sehr eine Schichtung der Gesellschaft sofort einen Kampf um Zugehörigkeit zu diesen Schichten entstehen lässt.

Kunst und Religion sind von Anfang an mit sozialer Diskriminierung verwoben. Jeder Mensch besitzt zwar das neurobiologische Potenzial, um in veränderte Bewusstseinszustände einzutreten. Diese Zustände werden jedoch nicht für alle Mitglieder der Gesellschaft zugänglich gemacht. Nicht alle

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Individuen haben Zugang zu allen Räumen der Höhle. Initiation – die Zulassung zu den Mysterien – und die Erfahrungen in der anderen Welt heißt ein Zuwachs von Macht in der Konsens-Realität. Im Falle der steinzeitlichen Gesellschaften handelt es sich dabei um die Kraft der Geistertiere.

Diese Verbindung aus Bewusstseinsspektrum, Sozialsystem und Topgraphie, die DLW erkennt, weist auf die hohe Komplexität menschlicher Gesellschaft hin und erzählt von den enormen Kraftanstrengungen der Menschen nicht auszusterben.
Die Neandertaler schienen durch fehlenden Zugang zur anderen Welt keine so hohe Komplexität symbolischer Aktivitäten und gesellschaftlicher Schichtung ausgebildet zu haben, obwohl sie über 5000 Jahre lang dem Menschen bei ihrer Darstellung der anderen Welt zugesehen haben.

DLW schreibt: „Die Neandertaler konnten sich nicht an Träume und die Visionen eines stark veränderten Bewusstseins erinnern und danach handeln – diese unvermeidliche Komponente des menschlichen Geisteslebens (die die Archäologen so weitgehend ignoriert haben). Die Neandertaler konnten sich keine geistige Welt vorstellen; sie konnten auch keine sozialen und politischen Beziehungen aufbauen, die auf unterschiedlichen Graden des Zugangs zu dieser

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Welt beruhten. Die sozialen und politischen Unterscheidungen der Neandertaler bezogen sich auf das Hier und Jetzt und basierten auf Geschlecht, körperlicher Kraft und Alter.“

Das noch mal als Abgrenzungsdefinition. Ich möchte nicht, dass es hier zur Neandertaler-Diskriminierung kommt. Ich liebe die Neandertaler sehr; so, wie ich alles Ausgestorbene liebe. Alles, was bereitwillig sterben kann. Alles, was ausgestorben ist, lebt in uns weiter. Menschen mit bestimmten Neandertalervarianten sind durchschnittlich häufiger Raucher. Andere Neandertaler-DNA ist öfter in „Nachtmenschen“ zu finden. Zurück in die Höhle.

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3 CONFLICT IN THE CAVE

„Es ist unmöglich heute noch anzunehmen, dass die Communities der Jungsteinzeit soziale Idylle waren.“ – DFW

Verschiedene Tierdarstellung sind gehäuft an besitmmten Orten in den Höhlen zu finden. Herdentiere wie Pferde und Bisons und Rehe finden sich eher in den Sälen, wobei Katzen eher mit den Tiefen der Höhle assoziert sind. Scheinbar gab es Kernmotive, wahrscheinlich veränderte sich ihre Bedeutung über die Zeit. Wir müssen realisieren, dass wir von einer Zeit vor 30.000 Jahren sprechen. Das heißt Menschen sahen und bearbeiteten Bilder von Menschen, die tausende Jahre vorher gemalt worden waren. Das sind unvorstellbare Kontinuitäten – gerade, wenn man realisiert, dass Jesus’ Füße vor 2000 Jahren den Boden im Westjordanland berührt haben. Bestimmte Bilder wurden auch immer wieder übermalt, um ihre ungebrochene Aktualität zu unterstreichen.

Andere Motive tauchen sehr selten auf, wie das Wiesel, der Hase oder der Moschusochse. Eines dieser raren Motive ist der „verwundetete Mensch“ – ein menschenartiges Tier, zerstochen von Speeren. Diese Darstellung findet sich beispielsweise in Gabillou oder in Peche Merle, eine Höhle, die man

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bis heute besichtigen kann und die hauptsächlich von Frauen bemalt wurde, was
man an den Hand-Negativen erkennen kann (Länge Ring- und Zeigefinger), in dem die Malerin die Hand auf die Wand legte und Farbe darauf blies. Bei der Führung in Peche Merle wird kurzzeitig das Licht in der Höhle ausgestellt.



Der „verwundete Mensch“ befindet sich in beiden Höhlen in kleinen, schwierig zu erreichenden Kammern, in der sich höchstens zwei Menschen gleichzeitig aufhalten können.

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Es ist unnötig zu erwähnen, dass wir es hier nicht einen tatsächlichen Mord sehen (die Füße!). Die Darstellung des „verwundeten Mensch“ zeigt uns noch mal eine andere Form der Halluzination. Neben auditiven und visuellen Halluzinationen erlebt der Mensch auch körperliche (somatische) Halluzinationen.
Schizophrenikerinnen berichten häufig von einer beunruhigenden Streckung der Kopfhaut. Für manche fühlt es sich an, als würde ein Angelhaken die Kopfhaut bis zu 30 cm über den Kopf ziehen. Kribbelnde, prickelnde und brennende Empfindungen auf dem Körper kennt jeder Drogenkonsument oder Angstpatient. Bei der Darstellung des „verwundeteten Menschen“ scheint es um eine Erfahrung pulsierender Hiebe auf den Leib zu gehen.

Tief in den Höhlen, schwachbeleuchtet muss das eine erschreckende Extremerfahrung gewesen sein. Diese von DLW zum symbolischen Tod ausgedeutet, ist eine bis heute praktizierte Initiation. Erst muss die Schamanin sterben, bevor sie heilen kann.

Die Bedeutung vom Individuum ist komplex und immer geformt von historischen und kulturellen Bedingungen. Mit DLW und anderen Höhlenforscherinnen kann mit Sicherheit festgehalten werden, dass die großen Bilder der Hallen in

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Gruppen-Ritualen durchgeführt wurden. Das Betreten der Höhlen sowie die Vorbereitung der Farbe und die Herstellung der Bilder war wahrscheinlich Teil einer Reihe von miteinander verbundenen, komplexen, sozial differenzierten, ritualisierten Kontexten.

Gleichzeitig lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit feststellen, dass Malereien in den Sackgassen, in den „Dead Ends“, am Ende von tiefen Tunneln mit hoher Wahrscheinlichkeit von Einzelnen hergestellt wurden. Das wir mit dem »verwundeten Menschen« ein Bild sehen, das sich der sozial-religiösen Ordnung widersetzt, ist ein erstaunlicher Gedanke, den DLW der Leserin am Ende des Buches mit erschreckender Klarheit vor Augen führt. DLW behauptet, dass es sich bei den Bildern des „verwundeten Menschen“ wahrscheinlich um stark manipulierte Darstellungen der Malerin selbst handelt, von ihrem Gang zu dem bizarre Endpunkt der Höhle und von dem gravierenden Ende des Bewusstseinsspektrums erzählen, von ihrem Ego-Tod. Ihre Rückkehr in die Gemeinschaft erzählt ihre Wiederauferstehung. In diesen Bildern stellt sich die Person selbst dar. Sie fixiert das Erlangen ihres Wissens von der anderen Welt und unterstreicht ihre Autorität.

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4 LEAVE SOCIETY (NEVER EVER)

Als es vor 10.000 Jahren wieder wärmer wird, schmelzen die Gletscher und hinterlassen Sümpfe. Die Neandertaler und die großen Tiere sind ausgestorben und die Menschen verlassen die Höhlen als Kulträume. Der Ort des Geistes verlagert sich in den Himmel. Ganz plötzlich endet die Höhlenkunst. Aber die politischen und religiösen Revolutionärinnen und Anführerinnen haben sich in den dunkelsten Ecken, tief unter der Erde selbst dargestellt.

Unter dem Himmel ist die Weite des Meeres. Während die Höhlen verschüttet gehen, unsere Vorfahren, ihre Kämpfe und ihre Darstellungen ins Unbewusste abrutschen, fahren die Menschen hinaus. Der Meeresspiegel steigt. Es wird zu einer Tradition, die Eingänge in die Unterwelt mit einer Seefahrt zu verbinden. Hinter den Flüssen, Meeren und Seen finden sich die Eingänge in die okkulten Orte. Bald, wie wir in Joseph Conrads Erzählung „Das Herz der Finsternis“ von 1899 lesen können, findet auch in den dunkelsten letzten Kammern der Imperien das Morden statt. Das Herz der Finsternis liegt am Ende des Flusses, den man durch eine schlangen-förmigen Rückwärtsfahrt erreicht. Die Fahrt führt den Protagonisten Marlow über eine dem Ozean angrenzende Outer Station, zu einer

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Central Station zu einer Inner Station, wo er auf Kurtz trifft, eine auf allen vieren kriechender Autoritär des Wahnsinns. Kurtz stirbt seinen symbolischen Tod als literarische Figur und geistert weiter als Wissender des Horrors.

Anfang Juli 2022 waren wir fast auf dem Gipfel der Pyrenäen. Es war ein heißer Mittag. Ich kraxelte auf allen vieren einen steilen Hügel hinauf. Tanita hatte gesagt, sie warte unten in unserer Hütte und schreibe ein paar Gedichte. Ich hatte mein T-Shirt ausgezogen und die Büsche kratzen mir die Brust und die Beine auf. Ich trug Crocs und als ich oben ankam, hatte ich unglaublichen Durst, aber ich vergaß ihn. Auf dem Gipfel stand ein Kreuz aus Stein. Ich lehnte mich dagegen und sah den Paraglidern zu, die weit hinten, auf der anderen Seite des Tales von Klippen sprangen. Ich dachte lange darüber nach, dass, sollte ich jemals noch mal ein Buch schreiben, dieser Moment darin vorkommen sollte. Aber, während ich dort saß, vergaß ich auch diesen Gedanken und sah in den blauen Himmel mit kleinen Wölkchen wie Schafe. Und Paraglider, unzählige Paraglider. Der Mensch hatte auf seine Art das Fliegen gelernt. Unter dem Himmel: Das Soziale. Schwerkraft und Gnade.

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