Oԋ Mҽɳɠҽԃҽ, ԃαʂʂ ԃυ αɳ ԃҽɾ Eɱʂƈԋҽɾ ʅιҽɠʂƚ

p𝒶𝓈𝒸𝒶𝓁 r𝒾𝒸𝒽𝓂𝒶𝓃𝓃

𝒜𝓁𝓁 𝒯𝑒𝓍𝓉𝓈

Oh Mengede, dass du an der Emscher liegst

II
(Teil I)

Im Chaos also wachte ich auf. Langsam erinnerte ich alles. Mir ging es gut, ich war verkatert. Durch die Fenster schien die Sonne. Ein paar Meter weiter schnarchte Fred.

Wir griffen das Geländer einer Treppe, die ich Stunden zuvor noch hinabgestürzt war. Langsam erinnerte ich alles. Ich war gestolpert. Ich war geküsst worden. Und jetzt lehnte Fred sich so fest gegen die Brandschutztür, dass uns die Emscher in die Nasen stieg. Immer schon hatte ich mir vorgestellt, die Ausdünstungen des Flusses stünden nur knapp über dem Boden, ein schwerer Geruch, als könnten sie unmöglich höhere Luftschichten erreichen. Der Schwung der Tür aber hatte sie aufgewirbelt und nun rochen wir sie, die Emscher, und liefen vor ihr weg.

Die Trinker im Park sprachen von einem Hurricane. Sie hockten dort, wo sich vorhin das Salz aus meiner Badehose gelöst hat, auf der Bank. Sie schoben die Goldfolie von ihren Kronen. New Orleans, sagte der eine, werde in diesem Moment evakuiert. Die anderen nickten. Ja, sagten sie, Katrina, schon jetzt, sagten sie, gingen die Mietwagen aus.

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Fünf Tage später, am 2. September 2005, moderierte Mike Myers das Concert for Hurricane Relief auf NBC.



Und Kanye West stand neben ihm und sagte: „I hate the way they portray us in the media. You see a black family, it says, ‚They’re looting.‘ You see a white family, it says, ‚They’re looking for food.‘ And, you know, it’s been five days because most of the people are black. And even for me to complain about it, I would be a hypocrite because I’ve tried to turn away from the TV because it’s too hard to watch.“

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Erst im Jahr, als ich 18 wurde, wurde das Alphabet ausgereizt. Lee. Maria. Nate. Nie waren so viele Stürme so arg über den Atlantik gezogen, nie mehr Menschen ertrunken. Ophelia. Philippe. Rita. So fühlt es sich an, dachte ich, erwachsen zu sein. Eine Katastrophe folgt der nächsten, und Stan ahmt das Vorbild nach.

Wilma aber übertraf es, das NON PLUS ULTRA, zumindest an Kraft. Ihr Luftdruck ist bis heute der niedrigste jemals gemessene. Am 21. Oktober befand sich die Insel Cozumel zwei Stunden lang in ihrem Auge. Cozumel ist 45 Kilometer lang. Das Auge war nur ein klein wenig größer, die Insel verschwand in seinem Innern. Das Auge ist der Moment nach und vor der Katastrophe. Wer im Auge steht, kann nicht sehen, was außerhalb des Auges passiert. Wer im Auge steht, ist sicher, bis das Auge sich bewegt. Nach Emily war Wilma bereits der zweite Hurricane, der 2005 auf die mexikanische Insel traf. Ich habe mir das immer wieder vorgestellt. Touristen werden evakuiert, während die, die bleiben, weil sie auf Cozumel leben, ihre Fenster verrammeln. Jetzt ähneln sie Sportlern, die sich so oft auf der Konsole selbst gespielt haben, dass ihre Gesten von den programmierten ersetzt wurden. Ein letztes Schiff lichtet den Anker. Am Horizont, dunkel animiert, die Karibik. Zwischenspeichern und bereit sein, zu

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sterben, ist ein und dasselbe. Als der Sturm sich gelegt hat, tritt man vereinzelt raus in den Regen. Man watet durch das Wasser vor den Häusern, untersucht die Schäden. Dann klart es auf. Von oben herab scheint die Sonne. Doch wohin sonst die Bewohnerinnen auch blicken, umgibt sie weiß und konkav eine Wand. Die Höhle, das sind die anderen. Nur durch sie ist die eigene Vorstellung möglich. Ich erkenne ihre Gesichter im Close-up. Mit der Hand wird eine Basecap imitiert.

Ich stelle mir etwas vor, und noch etwas. Und noch etwas.

Als die jungen Konquistadoren um Cortéz im Februar 1519 auf Cozumel landen, erfahren sie von zwei alten, die in Folge eines Schiffbruchs seit acht Jahren unter den Maya leben. Der eine ist der Franziskaner Jeronimo de Aguilar, der andere ein Seemann namens Gonzalo Guerrero. Der eine hat sich, Gott zu Ehren, entschieden, Sklave zu sein, der andere eine Familie gegründet. Der eine betet noch immer für seine Rettung vor den Einheimischen, der andere riet ihnen VON ANFANG AN, die Spanier als Feinde zu betrachten.

Zur selben Zeit ist es Nacht in Nürnberg. Zur selben Zeit malt Dürer dort, in der Albrecht-Dürer-Straße 39,

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den im Januar an Darmkrebs zu Grunde gegangenen Kaiser. Er malt Maximilian I., den man auch den letzten Ritter nennt, einen Granatapfel in die Hand, das Wappen Granadas. Der Rentner Albrecht Dürer will auf das Geld, das ihm Maximilian stets geschickt hat, auch in Zukunft nicht verzichten. Er würde schon klarkommen, klar, Dürer ist ja, der Signatur sei Dank, nicht arm, aber trotzdem. Wenn des Kaisers Enkel Karl, der Herrscher von Granada, den Granatapfel sieht, rafft er ja wohl, so hofft Dürer, dass es um ihn geht.

Und während Dürer über ihn nachdenkt, denkt Karl an Aachen. Sogar der Aal, denkt Karl, steht hinter dieser Stadt, im Duden, und ich erst recht, denkt er, auf Deutsch, obwohl er nicht Deutsch sondern Spanisch lernen soll. In diesem Februar 1519 aber kommt Karl nicht dazu, weil ER Geldsorgen hat. Um nämlich in Aachen zum Nachfolger seines Großvaters gewählt zu werden, muss Karl eine krank hohe Summe an jene Fürsten zahlen, deren Stimmen er will. Früher sind es Gebiete gewesen, die man verteilt hat, und Komplimente, Titel, denkt Karl, doch das Mittelalter ist vorbei, da kann man nichts machen, denkt er, nein, nicht mal ich.

Und während Dürer in seiner Werkstatt steht und sich Mühe gibt, die Kerne des Granatapfels saftig wirken

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zu lassen, formuliert Karl einen Brief an den reichsten Mann der Welt: „Lieber Jakob Fugger, bitte sei so gut und leih mir –“ Karl unterbricht sich, er hat keine Lust zu überschlagen, wieviel ihm fehlt. Karl kann kein Mathe, kein Einmaleins, kein Cosinus. Er kann ja nicht mal den Mund richtig schließen, der Habsburger Lippe wegen, die er geerbt hat wie den Thron. Die untere steht so weit vor, dass ein winzig kleiner König sich an der oberen anlehnen könnte. Locker, denkt Karl, und betastest seinen Kiefer. Anstatt also die eigene Wahl einzufädeln, schweift Karl ab. Die Sache ist nämlich die: Karl liebt den Ritterroman.

Er versenkte sich so tief in die Bücher, dass er über ihnen die Nächte vom letzten bis zum ersten Licht und die Tage vom ersten bis zum letzten Dämmer verlas, und der knappe Schlaf und das reichliche Lesen trockneten ihm das Gehirn ein, so dass er den Verstand verlor. Sein Kopf bevölkerte sich mit dem, was er in den Büchern fand, mit Verzauberungen und Turnieren, mit Schlachten, Fehden, Blessuren, Liebesschwüren, Amouren, Herzensqualen und anderem abwegigen Unfug. All das nistete sich so fest in seinem Geist ein, dass ihm das Lügengebäude der phänomenalen Phantastereien, von denen er las, ganz unverrückbar wurde und es für ihn auf Erden keine wahrere Geschichte gab.

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Den ersten Teil seines Don Quijote veröffentlichte Cervantes 1605, den zweiten 1615. Dass nun so gut wie alle Figuren, die Don Quijote und Sancho Panza trafen, schon von ihnen GELESEN hatten, veränderte alles. Sie erkannten ihre Stars und fingen an, Plots für sie zu skripten. Von da an gab es wirklich keine wahrere Geschichte mehr, als wäre ihr ganzes Leben Reality-TV. War den beiden im ersten Teil noch oft mit körperlicher Gewalt begegnet worden, wurden sie jetzt schikaniert und vorgeführt. Die neue Akzeptanz aber besiegelte Don Quijotes Schicksal erst recht: Die von Außen beglaubigte Rolle verstärkt ja nur den eigenen Wahn. Oder wie Cosimo sagt: „Jeder hat eine Schwäche. Meine ist, dass ich verliere und nicht gewinne.“

Das Jahr ist 1993 und Cosimo schaut fern. Cosimo ist 12 Jahre alt und guckt Herz ist Trumpf auf Sat 1. Eine Kandidatin heißt Sonja und hat eine coole Frisur. Cosimo findet sie irgendwie witzig und lacht. Das Jahr ist 1993 und Sonja wird entdeckt. Sonja ist 24 Jahre alt und hat keine Lust mehr, als Pilotin zu arbeiten. Das Jahr ist 1993 und in New York City explodiert eine Bombe unter dem World Trade Center. Das Jahr ist 1993 und Cosimo schaut fern. Cosimo liegt auf der Couch. Cosimo ist froh, dass die Türme noch stehen. Das Jahr ist 1993 und Cosimo schaut fern. Cosimo isst eine Schüssel Cornflakes

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mit Milch. Er guckt Bim Bam Bino auf Kabel 1. Dass Sonja, Basecap nach hinten, ins Studio stürmt und einen an sie adressierten Brief findet, wundert ihn nicht. Dass er wieder lachen muss, als Sonja etwas sagt, schon. Und Sonja sagt: „Hä? Ein Brief? Sonja Zietlow? Das bin ich!“


Einmal, Don Quijote hat sich in die Montesino-Höhle abseilen lassen, will er in genau dem Moment kein Ritter mehr sein, als ihn ein Gespenst als Ritter erkennt. Dass das Gespenst selbst Ritter ist und in ihm sieht, was er sich zu werden, vorgenommen hat, jenen Don Quijote von der Mancha nämlich, der abermals und mit noch größerem Gewinn als in verflossenen Jahrhunderten in diesem gegenwärtigen das bereits lang vergessene fahrende Rittertum hat aufleben lassen – dass seine Vorstellung sich dort, in der Höhle, erfüllt, genügt, sie endgültig als Wirklichkeit zu etablieren. Untertage werden Bedingungen geschaffen, die wirksam sind in der Welt. Sancho Panza oder die Gegenwart am anderen Ende des Seils ermöglicht Don Quijote, die Höhle jederzeit zu verlassen. Doch bevor es soweit ist, bevor Sancho ihn hochzieht, bemerkt Don Quijote ein weiteres Gespenst, und zwar das Dulcineas. Die Geliebte braucht Geld und will es sich von ihm leihen. Don Quijote aber fehlen

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zwei Realen, und da wird das alte, ritterliche Ideal, das ihn bisher an sie gebunden hat, ersetzt von etwas Neuem, und er ruft: „Ich wünschte, ich wäre ein Fugger!“

Weil der mit Schmiergeld zum Kaiser gesalbte Karl nun also in der Schuld der Fugger steht, erhalten sie nicht bloß den Großteil dessen, was als Moctezumas Schatz nach Spanien verschifft wurde, sondern, lukrativer noch, die Schürfrechte der Mine von Almadén. Das dort abgebaute Quecksilber wird gebraucht, um profitabler ans echte Silber zu kommen. Nirgendwo sonst lassen die Spanier mehr davon aus dem Berg tragen als im im ehemaligen Reich der Inka gelegenen Potosí.

1545 gegründet boomte Potosí schon, als der erste Teil des Don Quijote erschien. Innerhalb von 60 Jahren war ein wüstes Stück Land zur verlockendsten Stadt der Welt geworden.

Nirgendwo sonst zogen mehr Menschen hin, klar, Männer vor allem, bereit reich und legendär zu werden. Und wie Don Quijote oder Kaiser Karl hatten auch sie zu viel Fantasy gelesen. Lasen sie etwa von einem ganz im Westen gelegenen Eiland namens California, taten sie, sobald eine Halbinsel am Ende des Kontinents auftauchte, als hätten sie

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California gefunden. Sie WOLLTEN sich nur vorstellen, was sie schon kannten. Das ist, was Gonzalo Guerrero von allen, die nach ihm kamen, unterschied.

Und Don Quijote? Er konnte ihnen nicht folgen. Er war stuck. Er las mit solchem Eifer und Vergnügen, dass er darüber die Verwaltung von Geld und Gut vergaß, dass er viele Morgen Ackerland verkaufte, um sich Ritterbücher zu besorgen. Und so blieb ihm nur, zu bleiben, wo er war: An einem Ort in der Mancha. Erst der WAHN setzte ihn in Bewegung. Jetzt war Don Quijote sein eigener Protagonist. Doch er kam nicht weit, immer wieder erschien ihm irgendwo, irgendwas, mit der Luft ringende Riesen zum Beispiel, die eigentlich Windmühlen waren. Anstatt also Kalifornien zu erschaffen, wie die anderen es machten, und bloß die Neue Welt mit dem Ritterroman zu synchronisieren, wendete er ihn konsequent an auf ALLES.

Es ist 1995 und Cosimo schaut fern. Cosimo ist 14 Jahre alt und guckt 2Pac auf Viva. Der Song heißt California Love und Cosimo stellt sich vieles vor, eine Bong zum Beispiel und Geld, aber nicht die postapokalyptische Landschaft, die er sieht.

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Einmal, Sancho Panza hat Geld verlangt, um jene Prügel einzustecken, die Dulcinea vom bösen Zauber erlösen sollen, ruft Don Quijote: „Wenn es nach mir ginge, Sancho, wäre solch gewaltige,
solch treffliche Arznei nicht mit allen Schätzen von Venedig oder von Potosís Silberminen aufzuwiegen!“

70 Jahre nach ihrer Gründung war Potosí nicht bloß eine der größten Städte der Welt, sondern auch auf dem Weg, sprichwörtlich zu werden: valer un potosí. So sagte man nun, 1615, als der zweite Teil erschien, wenn etwas unbezahlbar war. Die Stadt aber, die um die Münzprägeanstalt wucherte, sah aus, wie eine aus dem Boden gestampfte Goldgräberstadt nun einmal aussieht: Saloons, Bordelle, Villen, Theater, Slums und das erste Instituto Cervantes. Weil sie im Hochland lag, gab es keine Landwirtschaft, und so waren die, die sich nicht todplacken mussten, nur damit beschäftigt, Nahrung und Kokablatt herbei- oder das Silber fortzuschaffen.


Einmal, Don Quijote und Sancho Panza werden von einer Gräfin zwecks Entertainment und Verarsche in deren Schloss festgehalten, steigen sie auf den magischen, weil von Merlin gefertigten

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Malambruno, ein Holzpferd, das mit einem Joystick gesteuert wird. Die Gräfin verbindet ihnen die Augen und erklärt, das Pferd sei, einmal in der Luft, so fix unterwegs, dass sie schon übermorgen in Potosí sein könnten. Und während die beiden also, ohne etwas zu sehen, auf seinem Rücken sitzen, fächert ihnen die Gräfin Fahrtwind ins Gesicht. Dieses Pferd ist, was Sonja Zietlow gegen eine Boeing 737 getauscht hat. Dieses Pferd liefert Don Quijote einer Dynamik aus, die nur ein mitskriptendes Publikum erschafft. Und nur weil er die Gräfin, die Fan und Peinigerin zugleich ist, nicht enttäuschen will, macht es keinen Unterschied, ob er wirklich fliegt oder nicht, solange er die Prüfung besteht.

Das Jahr ist 1982 und Sonja sitzt vor MS-DOS. Sonja ist 14 Jahre alt und spielt Microsoft Flugsimulator. Sie sitzt in einer Cessna und sieht die Wolken vorbeiziehen. Das Jahr ist 1984 und Sonja sitzt vor MS-DOS. Sie spielt Microsoft Flugsimulator 2. Das World Trade Center hilft Sonja, sich zu orientieren. Das Jahr ist 1988 und Sonja sitzt vor MS-DOS. Sie spielt Microsoft Flugsimulator 3. Die Türme des World Trade Centers stehen so weit auseinander, dass Sonja an die Säulen des Herakles denkt. Die Säulen des Heraklit markierten das Ende der Welt, Sonja aber steht die Welt offen. Die Säulen des Heraklit waren das Original-Non Plus Ultra.

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Die Säulen des Heraklit galten nicht mehr, seit Kaiser Karl sich ein Motto ausgesucht hatte: Plus Ultra. Erst als die Säulen des Heraklit nicht mehr galten, wurden sie in Potosí in jede Silbermünze geprägt – und um die Säulen ein Spruchband, Plus Ultra, in Form eines S. Das zweifach durchstrichene S ist ein Symbol, das Sonja mag. Das Jahr ist 1988 und Sonja schreibt mit der Cessna ein Dollarzeichen in den Himmel über dem World Trade Center. Das Jahr ist 1989 und Sonja macht eine Ausbildung zur Pilotin. Das Jahr ist 1993 und Sonja sitzt vor MS-DOS. Sie spielt Microsoft Flugsimulator 5 und dreht ab, im Kopf, klar, aber auch mit der Cessna. Der Atlantik hebt und senkt sich, ganz hinten ist Gibraltar zu sehen.

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Mit jedem Cervantes-Fan, der über den Atlantik fuhr und sich des druckfrischen Buches wegen das Pferd Malambruno wünschte, wurde das Non plus ultra, das NICHT DARÜBER HINAUS absurder. Mit jedem Piloten, der für die Silberflotte zwischen Spanien und Amerika rotierte, wurde die antike Vorstellung in ihr Gegenteil verkehrt. Plus Ultra. Ende und Anfang. Ohne die Concorde wäre der Finanzkapitalismus der 198oer nicht möglich gewesen. Ohne die Twin Towers auch nicht. Sie sind die späten, die stählernen Säulen dessen gewesen, worauf Karl hoffte, als er sich Geld bei Jakob Fugger lieh. Plus ultra. Immer weiter. Es ist kein Witz, dass man die Fugger anfangs Fucker nannte, im Steuerbuch: Fucker advenit.

Und während 1615 also durch Malambruno Agitierte anfingen, die Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit zu verachten, achteten die Menschen in Mengede darauf, dass keine illegalen entstanden. Sie nannten das Schnadengang. Schnade wie Schneise, und darum ging es ja auch: Die Ränder des Dorfes begehbar zu halten. Die Einhegung der gemeinen Flächen – der Voerden, Allmenden, Hutewälder – hatte in Westfalen noch nicht begonnen, doch hin und wieder pflanzte trotzdem irgendein ASI eine Hecke, und weil Privatbesitz der schlimmste Wildwuchs ist, riss man sie und ihre Wurzeln wieder aus. So ging das, das war der ganze Trick.

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Erst als die Privatisierung gegen alle Widerstände abgeschlossen war und der industrielle Bergbau begann, konnte die preußische Regierung das Verbot bekannt geben, 1841.

Die an einigen Orten noch üblichen Grenz- und Schnadenzüge haben in der neueren Zeit, zur Verübung mehrerer grober Exzesse Veranlassung gegeben. Da derartige Züge in der jetzigen Zeit keinen Nutzen mehr gewähren, weil bei der vollendeten Katastrirung des Grund und Bodens eine Verdunklung der Grenzen nicht leicht möglich ist, eintretendenfalls aber ohne Theilnahme der einzelnen Gemeindeglieder von den Behörden gehoben werden kann, so werden diese Grenzzüge, in Folge Bestimmung des Königlichen Ministerium des Innern und der Polizei ganz untersagt.

60 Jahre nach dem Verbot war das Land, das niemand mehr ablaufen durfte, in Bergsenken verschwunden oder von der Emscher geflutet worden. Jetzt erinnerte nichts an den Fluss. Jetzt verbanden stehende Tümpel voll Chemikalien und Kot die Vororte. Seuchen brachen aus, aber das Ruhrgebiet wuchs weiter. In Gelsenkirchen starben Hunderte an Typhus, 1901.

In diesen Gräben bewegt sich kaum merkbar eine

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schwarze, dicke, breiige, faulende und gärende, stinkende Jauche, auf deren Oberfläche im Sommer große Gasblasen platzen, die Luft im weiten Umkreis verpestend. Ein eigenartiger und wohl nirgends in der Welt wieder zu beobachtender Tatbestand liegt darin, daß die Gärung und Fäulnis dieser gewaltigen Massen entsetzlich schmutziger und schlammiger Abwässer noch dadurch in denkbar höchstem Maße gesteigert wird, daß dieselben durch den Zufluß der heißen Kondensationswasser der zahllosen Dampfmaschinen oft geradezu Bruttemperatur annehmen. Diese Gelsenkirchener Jauche ist die entsetzlichste Flüssigkeit der Welt.

70 Jahre nach dem Verbot war DIE REGULIERUNG WESTFALENS abgeschlossen, sogar die Emscher verlief nun als Kanal. Der Ingenieur, der sie begradigt hatte, erhielt einen euphorischen Nachruf, 1911.

Dafür gebührt ihm nicht nur der Dank der Industrie, für die er wirtschaftliche Vorteile geschaffen hat, sondern auch der Dank des kleinsten Bergarbeiters, der künftig die Miasmen des entstehenden Sumpfes nicht mehr zu atmen braucht.

Ganz so ist es dann ja doch nicht gekommen, denke ich und blicke von der Brücke in den renaturierten Fluss. Ich werfe einen letzten Blick auf das Chaos.

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Ich wringe mir die Emscher aus dem Haar. Ich will die Siegenstraße hinab laufen, ich lauf die Siegenstraße hinab. Dass Hu Jintao wirklich hier war. Dass sein Chauffeur sich geirrt hatte, damals im Herbst 2005. Dass er in den Michael-Holzach-Weg eingebogen war. Dass Hu Jintao viel länger blieb als geplant. Ich mache ein Foto vom Tabakautomat an der Kleinen Riedbruchstraße. Ich kaufe mir die selbe Marke wie der Präsident. Ich biege in die Groppenbrucher ein. Hier steh ich also und erzähl, hinter der alten Wohnung meiner Eltern, die meine erste Wohnung war, am Pumpwerk Groppenbruch, das, seitdem ich mich an mich erinner, dafür sorgt, dass er abfließen kann, der Groppenbruch, in die Emscher. Das Badezimmerfenster steht auf Kipp. Was dahinter passiert, kann ich nicht sagen. Was passiert ist, schon.

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Es schwindelt mir, weil das Wasser zu warm ist. Diese Art Wasser heißt Badewasser. Nur wegen ihm erkenn ich Monster im Muster der Korktapete. Sie bewegen sich im Dampf, der von meinem Arm aufsteigt. Sie folgen dem Zeichen, das ich ihnen geb, hin zum offenen Fenster.

Ich war den ganzen Tag im Sauerland. Ich bin acht Jahre alt und habe mich in der Atta-Höhle verlaufen. Ich kann nicht unterscheiden zwischen Stalaktit und Stalagmit. Das Wort ATTA aber hat jetzt einen Klang. ATTA – als krabble eine vom Durst komplett Blöde nach Wochen aus der Höhle hinaus. Dass man in so einem Fall den eigenen Urin trinken muss, weiß ich. Dass ich Bade- in Abwasser verwandeln kann, auch.

Durchs offene Fenster seh ich das Pumpwerk. Sehe mich, sehe, wie ich mich seh. Noch ist die Emscher ein Fluss voll mit Fäkalien, und dort, wo ich im Badezimmer steh, standen Bäume.

In my beginning is my end. In succession
Houses rise and fall, crumble, are extended,
Are removed, destroyed, restored, or in their place
Is an open field, or a factory, or a by-pass.


Schweine fraßen die jungen Buchentriebe und die Bucheckern der alten, wurden fett, während der Wald

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dünn blieb. So öffnete er sich Mengede, und wenn jemand einen Zaun durch ihn zog, um den angrenzenden Grundbesitz zu vergrößern, traten andere den Zaun wieder ein.

Old stone to new building, old timber to new fires,
Old fires to ashes, and ashes to the earth
Which is already flesh, fur and faeces,
Bone of man and beast, cornstalk and leaf.


Weil es geteilt wurde, wurde das Land nicht aufgeteilt. Die Menschen machten einen Schnadengang, und noch einen. Und noch einen. Sie rupften Hecken aus. Sie schlugen Schneisen durch den Wald und ja, auch Köpfe ein. Grober Exzess als Protest gegen Enteignung. Die Grenze von Bade- und Abwasser. Die Neue Welt. Der Selbstekel. Die Grenze der Scholle, der Hass auf die anderen. Ja, in Frankreich wird ein Audi TT in einen LIDL-Markt rasen, doch als Preußen das Verbot 1841 erließ, schrieb Heine dort seinen Atta Troll.

Es schwindelt mir nicht, weil das Wasser zu warm ist. Ich bin elf Jahre alt und lese im Atta Troll. Ich verstehe wenig, der Sinn ergibt sich mir sofort. Ergibt sich, wie ein Zusammenhang oder ich mich im Streit. Was sonst, als zu kapitulieren, bleibt mir, davor, dass –

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In dem Tal von Ronceval,
Unfern von der Rolandsscharte –
So geheißen, weil der Held,
Um sich einen Weg zu bahnen,


Mit dem guten Schwert Duranda
Also todesgrimmig einhieb
In die Felswand, daß die Spuren
Bis auf heutgem Tage sichtbar –


Dort in einer düstren Steinschlucht,
Die umwachsen von dem Buschwerk
Wilder Tannen, tief verborgen,
Liegt die Höhle Atta Trolls.


Ich lese vom Schwert Duranda. Ich stehe auf aus dem Bad. Ich gehe in die 5A des Heinrich-Heine-Gymnasiums. Ich sehn mich danach, ein solches Schwert zu haben. Ich lehn mich nur an, an die Schule, und sie fällt. Ich schäm mich sehr, wenn ich an mich denke. Ich habe lang schon keine Badewanne mehr. Ich les mir aus der spanischen Wikipedia vor: „Durandarte o Durandal fue la espada de Roldán.“

Und Don Quijote sagt: „Der ehrwürdige Montesinos führte mich also in den Kristallpalast, wo sich in einem ebenerdigen, angenehm kühlen Saal aus

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purem Alabaster ein kunstvolles Grab aus Marmor befand, auf dem ich einen Ritter ausgestreckt liegen sah, nicht aus Bronze, nicht aus Marmor, nicht aus Jaspis, wie sonst auf Gräbern, sondern aus reinem Fleisch und Bein. Seine rechte Hand (leicht behaart und sehnig, wie mir schien, ein Zeichen, dass ihr Besitzer große Kraft besaß) ruhte über dem Herzen; und bevor ich Montesinos noch danach gefragt hätte, sagte er, angesichts meiner erstaunten Blicke: ‚Dies ist mein Freund Durandarte.‘“

Ich sehe mich nicht, ich halte die Augen geschlossen. Ich frage mich: Gespenst? Oder Schwert? Oder beides?

Und Don Quijote sagt: „Es lohnt nicht, dies nachzuforschen, denn Wahrheit und Lauf der Geschichte werden dadurch weder getrübt noch verändert.“

Es schwindelt mir, weil ATTA ein Nachname ist. Ich bin 14 Jahre alt und dusche. Ich sehe mich zwischen offenem Fenster und Vorhang.

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Houses live and die: there is a time for a building
And a time for the wind to break the loosened pane
And to shake the wainscot where the field-mouse trots
And to shake the tattered arras woven with a silent motto.


Ich habe versucht herauszufinden, was Atta bedeutet, aber nichts erfahren, das mir geholfen hätte. Es ist auch egal, es gibt diese Art von Hilfe nicht, nur meine Vorstellung, den Schwamm der Welt, der im See sich betrachtet, das Wort Atta.

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